Wo bleibt der Diskurs?

Schwarz und Weiß. Das sind erst mal zwei Kontraste, die gerne als Verdeutlichung von maximalen Unterschieden dienen. Licht und Schatten, das Gute und das Böse – egal womit man diese beiden „Farben“ in Verbindung bringt, es wird immer klar, dass es sich hier um zwei gegensätzliche Extreme handelt.

Worauf ich in diesem Text und in diesem Zusammenhang eingehen will, ist die Entwicklung unseres gesellschaftlichen Diskurses in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Vielerorts hört man, dass die Sprache der Menschen ebenso wie die Wertvorstellungen vieler zunehmend und stetig verrohen. Wo früher noch vermeintlich differenziert mit Dingen umgegangen wurde, wird heute nur noch in schwarz und weiß gedacht und es werden nur noch Extreme gelebt und verteidigt. Doch ist das wirklich so? Hat sich unser Umgang miteinander verändert, und wenn ja, wieso? Darauf möchte ich im Folgenden etwas eingehen.

Früher, und da spreche ich von einer Zeit vor dem allerorts zugänglichen, schnellen Internet, gab es Meinungen ebenso unterschiedlicher Prägung wie heute. Es gab Menschen, die gewisse Dinge extremer gesehen haben als andere, und es gab Menschen, denen vieles einfach egal war – so wie auch heute. Doch wieso scheint heutzutage alles schlimmer und extremer geworden zu sein, wenn die Meinungen doch auch damals schon da waren?
Nun, als es noch kein flächendeckend ausgebautes Internet und damit Online-Foren oder Kommentarspalten auf Social-Media-Plattformen gab, tauschten sich die Menschen innerhalb kleiner, privater und nur begrenzt öffentlicher Filterblasen miteinander aus. Am Stammtisch, im Vereinsheim oder auf dem Dorf- bzw. Stadtfest. Dabei umgab man sich, wie auch heute noch, primär mit Menschen, die einen ähnlichen Standpunkt zu den gängigen Themen, insbesondere Politik, hatten, weil man sich lieber gegenseitig bestätigt, als in der Freizeit permanent zu streiten. Dieses Verhalten hat sich übrigens bis heute nicht geändert – wir leben immer noch am liebsten in unserer eigenen Bubble, weil es einfach angenehmer ist, sich gegenseitig auf die Schulter zu klopfen, als sich dem fortwährenden, kritischen Diskurs zu stellen. Das sorgt zudem für ein weiteres Phänomen, das unsere Gemeinschaften noch näher zusammenschweißt und die Gräben zu anderen Gemeinschaften tiefer werden lässt: Das Feindbild – und „der Feind“ sind immer die anderen. Oder wie der Philosoph Richard David Precht mal in seinem Buch „Die Kunst, kein Egoist zu sein“ sinngemäß meinte:

„Es gibt uns, dann gibt es die anderen, und dann gibt es noch die ganz anderen.“

Was damit gemeint ist, ist der Umstand, dass Menschen, ebenso wie viele andere Primaten, Hordentiere sind. Das heißt, damit es uns gut geht, müssen wir uns einer Gruppe zugehörig fühlen. Das kann die eigene Familie oder ein Fanclub einer Fußballmannschaft sein. Es kann die Firma, bei der man arbeitet sein oder eine politische Partei oder Strömung. Und selbst jene, die nichts Besonderes haben, mit dem sie sich identifizieren und über das sie sich definieren könnten, suchen die Gemeinschaft. In ihrem Volk, ihrer Nationalität, ihrem Land, obgleich die Gruppe eines Volkes natürlich unglaublich heterogen ist und sich logisch gesehen kaum eignet, um sich damit in Gänze zu identifizieren.
Egal, der Punkt ist: wir können nicht lange alleine sein, ohne uns zu irgendetwas zugehörig zu fühlen. Insofern bildet diese, unsere Gruppe das „Wir“, mit dem wir uns von „den anderen“ abgrenzen und so dafür sorgen, dass diese anderen nicht zu uns gehören, also anders sind, anders denken und andere, vermutlich falsche Ansichten haben. Denn wer würde sich denn so mir nichts, dir nichts eingestehen, mit der eigenen Meinung auf dem Holzweg zu sein?

Entsprechend der jeweiligen Einstellung waren und sind die privaten Filterblasen also relativ homogen aufgestellt. Das kann innerhalb des Privaten auch funktionieren, doch heutzutage verschiebt sich das Private mehr und mehr in den öffentlichen Raum. Was früher die Leserbriefe waren, sind heute die Kommentare unter den Zeitungsartikeln und wer sich zurückerinnert weiß, dass Leserbriefe auch damals nicht immer nur lobende Worte beinhalteten, um das mal freundlich auszudrücken. Und das ist auch verständlich, denn eine negative Emotion treibt Menschen häufiger in die Offensive, als wenn einem ein Beitrag in der Zeitung gefallen hat und man zufrieden mit der Welt ist. Der eigene Ärger muss eher kundgetan werden, als die wohlige Zustimmung, denn wenn ein Artikel der eigenen Meinung widerspricht, dann stammt er ziemlich sicher von einem oder einer der „anderen“ und ist damit falsch oder unzureichend. Deshalb muss man diesen auch korrigieren, denn sonst bekämen ja alle anderen Leser:innen ein vollkommen falsches Bild vermittelt und ließen sich womöglich noch von „den anderen“ auf subtile Weise korrumpieren.

Der Aufwand, einen Kommentar unter einen Zeitungsartikel auf Facebook zu schreiben, ist zudem deutlich geringer, als der Aufwand, den man früher leisten musste, um einen Leserbrief zu schreiben. Entsprechend stieg die Zahl der Kommentator:innen natürlich seit Beginn unseres Social-Media-Zeitalters stetig an und brachte zudem den negativen Effekt mit sich, dass man im Internet verhältnismäßig anynom unterwegs ist. Wer also früher noch seinen Namen und die eigene Adresse auf den Brief schreiben musste, kann heute ungezügelt und unerkannt den eigenen Zorn mit aller Macht des eigenen Schimpfwortschatzes auf das selbst erwählte Feindbild niederprasseln lassen, ohne erst mal mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Durch Fake-Profile mit Tieren als Profilbild weiß im Zweifel also nicht mal der oder die eigene Partner:in, welche menschenverachtenden Hasstiraden man noch vor dem Abendessen in die Tastatur gehämmert hat.

Diese vermeintliche Anonymität und die Einfachheit, mit der Kommentare heutzutage geschrieben werden können, veranlasst also immer mehr Menschen dazu, den eigenen Hass öffentlich zu machen. Und weil sich eben primär Menschen mit negativer Energie ans Kommentieren machen, verzerrt sich die Wahrnehmung der Leserschaft einer Zeitung insgesamt. Deshalb glauben diese wütenden Menschen auch, dass sehr viel mehr andere Menschen ihre Meinung teilen, als es tatsächlich der Fall ist. Denn wenn gefühlt 60 oder 70% der Kommentare gegen den Artikel der Zeitung, also den Mainstream schießen, glaubt man irgendwann, dass 60 bis 70% der Menschen diese Meinung teilen, was am Ende darin mündet, dass man sich auf den Straßen trifft und „wir sind das Volk!“ schreit, bis einem die Galle aus dem Hals springt.

Das Phänomen ist jedoch kein rein rechtes, sondern zeigt sich auch im linken politischen Spektrum. So werden aus allen Richtungen Menschen regelrecht inflationär mit Begriffen wie „Nazi“, „Schlafschaf“, „Linksextremist:in“ oder Bezeichnungen wie „links-grün versifft“ angegangen, ohne groß darüber nachzudenken, ob das überhaupt zutrifft. Das Problem ist doch, dass man streng genommen oft gar nicht „links“ ist, sondern viele Positionen der eigenen Meinung „links“ sind, wohingegen andere Ansichten vielleicht sogar eher konservativ sind. Ebenso kann jemand, der einen kritischen Beitrag zur Flüchtlingspolitik schreibt viele linke Ansichten haben, in dieser Frage aber eher konservativ aufgestellt sein. Dennoch wird dieser Person, nach Sichtung eines einzigen Kommentars, gerne direkt der „Nazi-Stempel“ aufgedrückt, weil man aus allen Rohren feuern und sich dennoch sicher sein kann, dass man aus der eigenen Bubble Zustimmung erfährt. Umgekehrt und in nahezu allen anderen Bereichen verhält es sich natürlich genauso.

Wir sind schon so in diesem Denken in Kontrasten versumpft, dass es uns oft schwer fällt, gewisse verbale Impulse zurückzuhalten und jemandem, der etwas für uns Untragbares gesagt hat, nicht ein „Arschloch!“ an den Kopf zu werfen. Hinzu kommt auch, dass durch die Algorithmen, die unsere Surfgewohnheiten analysieren, wir immer mehr in unserer eigenen Bubble versinken und andere Meinungen kaum noch wahrnehmen. Das sorgt dafür, dass wir uns immer und immer wieder von Artikeln aller Art selbst bestätigen lassen, ohne je mit anderen Meinungen konfrontiert zu werden. Entsprechend fallen wir aus allen Wolken, wenn jemand etwas sagt, von dem wir uns nicht in unseren schlimmsten Träumen hätten vorstellen können, dass jemand eine solche Meinung vertritt. Wir werden alle zu Extremisten und Radikalen in unseren eigenen Welten und vergessen dabei, dass die Lebensrealität der Menschen auch abseits von Algorithmen nicht dieselbe ist. Wer aus gutem Hause im hipsten Viertel Berlins Soziologie studiert, mehrere Semester im Ausland lebt und sich um seine Zukunft keine Gedanken machen muss, sieht die Welt mit ganz anderen Augen wie jemand, der in einem Plattenbau aufgewachsen ist und dessen oder deren Eltern Hartz 4 beziehen, Alkoholiker:innen sind und von Bildung und Ausländern nichts halten. Die wunderbarste Utopie eines weltweiten, solidarischen Miteinanders interessiert einen 45-jährigen Kohlekumpel nicht, der wegen der Energiewende seinen Job verloren hat und nicht weiß, wie er seine Familie ernähren soll.

Wenn wir uns diese unterschiedlichen Realitäten immer wieder vor Augen führen und dem produktiven Diskurs wieder Vorrang vor verbalem Bubble-Extremismus geben, besteht die Möglichkeit, dass wir wieder etwas mehr zueinander finden. Allerdings – und das klingt jetzt trotz meines hoffnungsvollen Vorschlags von eben recht pessimistisch – stehen die Chancen meines Erachtens schlecht für eine absehbare Konsensfähigkeit innerhalb der breiten Gesellschaft, da wir wohl systembedingt in eine Zukunft steuern, in der immer mehr Menschen in immer prekäreren Lebensverhältnissen landen werden und welchen es dann wahrscheinlich am Arsch vorbei gehen wird, ob man „Zigeunersoße“ sagen darf oder das Gendersternchen benutzen soll.

Die Zukunft wird geprägt sein von flammender Wut, also sollten wir sie nicht noch mehr durch eine vereinfachte Sichtweise und provokante Sprache befeuern.