Wertedebatten

In den letzten Jahren kamen immer mehr Debatten auch im Mainstream an, die bis dahin vorwiegend in linken Kreisen diskutiert wurden. In diesen Debatten geht es zumeist darum, wie wir unser Denken und Handeln von alten Lastern wie Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Homophobie oder den Geschlechtern zugeordneten Rollenbildern befreien können. Das macht vor allem auf Menschen, die sich zuvor kaum oder gar nicht damit auseinander gesetzt haben, einen sehr befremdlichen Eindruck und erzeugt entsprechende Irritationen und Reaktionen. Aktuell wird von diesen Themen wohl nichts breiter diskutiert als das Gendering der Sprache.

Auf jene, die sich nie damit auseinandergesetzt haben, wirkt das Sternchen – oder eines der anderen verwendeten Zeichen – störend und unnötig. Kritik kommt vor allem von Seiten der Cis-Männer, denen oft das Verständnis dafür fehlt, warum es Frauen und anderen Geschlechtern plötzlich nicht mehr ausreicht, beim generischen Maskulinum „mitgemeint“ zu werden. Doch auch von Frauen hört man immer wieder, dass sie sich auch in der bisherigen Sprache nicht diskriminiert fühlen und das Gendering ihrer Meinung nach absolut unnötig sei. Diese Anpassung der Sprache wird in vermeintlich logischer Konsequenz dann häufig als „Genderwahn“ abgetan, um sich damit nicht weiter beschäftigen zu müssen.

Problematisch ist dabei, dass gerade jenen, die sich durch das generische Maskulinum diskriminiert fühlen, und ohne dass sich dabei mit ihren Sorgen, Ängsten und vor allem Argumenten auseinandergesetzt wurde, die Chance genommen wird, sich endlich in der Sprache vertreten zu fühlen. Dasselbe Phänomen kann man übrigens auch beim Thema Rassismus beobachten, bei dem insbesondere diejenigen, die selbst nicht davon betroffen sind, den Betroffenen ihre Lebensrealität absprechen, indem sie behaupten, es gäbe kein Problem mit Rassismus – und wenn, dann seien das alles Einzelfälle.

Warum viele Menschen die Probleme anderer als Nichtigkeiten abtun, liegt sicherlich in verschiedenen Dingen begründet. Ein wichtiger Aspekt ist jedoch, dass man sich, wenn man Probleme, deren Ursache man eventuell selbst ist, ernst nimmt, selbst reflektieren müsste – sich also mit dem eigenen Denken auseinandersetzen müsste und gegebenenfalls einsehen müsste, dass man vielleicht doch nicht so toll ist, wie man sich das immer eingeredet hat. Die Angst, sich selbst eines Irrtums zu überführen, oder von anderen auf einen solchen hingewiesen zu werden, sorgt also dafür, dass wir die eigene Lasterhaftigkeit gerne unter den Teppich kehren und auf Hinweise anderer darauf, schnell mit Trotz und Wut versuchen, den Verdacht wieder von uns abzulenken oder die Anschuldigungen des Kritisierenden als unsinnig abzutun. Dass diese Haltung der Selbstreflexionsverweigerung unserem gesellschaftlichen Miteinander schadet und dem Gedanken der Gleichheit aller Menschen im Weg steht, sollte kaum überraschen.

Um irgendwann den Traum dieser gleichgestellten Menschheit leben zu können, müssen wir uns aber stetig fragen, was wir an unserem bisherigen Denken und Tun so ändern können, dass Schieflagen und Missstände, die zeitgleich existieren, verschwinden. Denn die Probleme, die aus unserem Denken und Handeln resultieren, verschwinden erst dann, wenn wir auch deren Ursachen angehen. Dabei ist es wichtig, dass auch Perspektiven gehört und anerkannt werden, die wir selbst nicht haben. Grundlage für ein besseres Miteinander muss also gegenseitiger Respekt und die Anerkennung der Sichtweisen anderer sein, so dass am Ende keine hierarchischen Denkmuster mehr existieren.

Dieses Ziel erreichen wir jedoch nur, wenn wir unser Leben von Grund auf durchleuchten und fragwürdige Einflüsse neu bewerten. Dass dieser Prozess auch abseits des Genderings der Sprache bereits in vollem Gange ist, sieht man unter anderem daran, dass Kinderbücher oder -filme auf Sexismus, Chauvinismus oder Rassismus hin überprüft werden. Für viele wirkt dieser Schritt kaum nachvollziehbar und löst ein ebensolches Unverständnis aus wie eingangs erwähnt.

Was soll schon an Kinderbüchern und -filmen schlimm sein, die wir selbst schon als Kinder gesehen haben und die uns ja offensichtlich auch nicht zu Unmenschen werden ließen?

Nun, bewusst haben uns diese Dinge sicherlich nicht negativ beeinflusst, doch unbewusst manifestieren solche Inhalte – und mögen sie noch so subtil sein – gerade bei Kindern ein Denken, das im weiteren Leben diese Inhalte reproduziert und so auch in den Köpfen der einst unschuldigen Kleinen irgendwann ein bestimmtes Rollenbild, eine bestimmte Sprache oder ein bestimmtes Verhalten als normal verankert wird, aus dem wiederum die Probleme resultieren, die wir eigentlich lösen wollten. Wir können uns also nur von stereotypem und hierarchischem Denken lösen, wenn wir schon im Kindesalter anfangen, unseren Lernprozess von diesem zu befreien.

Das bedeutet nicht, dass Kinder keine althergebrachten Geschichten wie Pippi Langstrumpf oder den Suppenkasper mehr sehen und lesen dürfen, doch sollte man sie beim Konsumieren dieser Dinge begleiten und ihnen erklären, wie diese Dinge einzuordnen sind und was daran aus heutiger Sicht eventuell nicht mehr gut ist; und wer nun findet, dass das zu viel erzieherischer Aufwand für ein Buch oder einen Film ist, sollte sich eventuell überlegen, ob er oder sie für die Kindererziehung überhaupt geeignet ist. Ein anderer Ansatz zur Erhaltung der Geschichten wäre auch, die aus heutiger Sicht kritischen Passagen in Neufassungen so umzuschreiben, dass sie niemanden mehr diskriminieren.

Dieser kritische Umgang mit alter Lektüre betrifft übrigens nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene. Gerade die Diskussion um Rassismus innerhalb der Werke Immanuel Kants sorgt seit vielen Jahren für Gesprächsstoff. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir Kant aus den Vorlesungen streichen sollten, sondern, dass wir uns mit den entsprechenden Aussagen kritisch auseinandersetzen und diese neu bewerten sollten – also quasi Kant mit Kant konfrontieren.

Es ist also wichtig, alles zu überdenken, was uns als Menschen zu dem macht, was wir heute sind, um herauszufinden, was wir ändern müssen, um morgen besser zu sein – oder um es mit Kant zu sagen: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Links:
Was sind Cis-Männer?
Rassismus bei Kant