Regretting Motherhood – Naivität, Krankheit oder ein generelles Gesellschaftsproblem?

Während ich in den letzten Zügen meiner zweiten Schwangerschaft bin und versuche die Schmerzen wegzuignorieren, die ein wassermelonengroßes Kind im kleinen Becken verursacht, bin ich erneut auf einen Post auf Facebook zum Thema „Regretting Motherhood“ gestoßen. Ein Thema, mit dem ich mich vor ein paar Jahren schon einmal beschäftigt habe.

Was ist das genau? Die israelische Soziologin Orna Donath startete 2015 eine Studie zum Thema „Mütter, die ihre Kinder lieben, jedoch ihre Rolle als Mutter bereuen“. Im Netz findet man immer häufiger Artikel dazu, was ich persönlich als sehr wichtig empfinde, um aus diesem Tabuthema herausbrechen zu können. Auch die Funk-Plattform „Die Frage“ hat sich schon dem Thema gewidmet. (s. Link 1) Was mich viel mehr schockiert, sind die Kommentare in den sozialen Medien darauf. Man könnte sagen, fast 90% der Kommentare bestehen aus peripheren Ferndiagnosen und wüsten Beschimpfungen, man hätte sich das ja früher überlegen können oder solle die Kinder lieber zur Adoption freigeben. Da wundert es niemanden, dass interviewte Mütter stets versuchen anonym zu bleiben. Ich denke, das Thema ist weitaus komplexer.

Bei „Regretted Motherhood“ werden Diagnosen wie beispielsweise die Wochenbettdepression vorher schon ausgeschlossen. Zudem sollte sich niemand außer der betreuende Arzt anmaßen, eine Diagnose stellen zu dürfen oder diese Reaktion zu bewerten. Betroffene Mütter hassen sich häufig selbst für das Fehlen der innigen Gefühlen, die eine Mutterschaft mit sich bringen sollte. Sie vermissen ihr vorheriges Leben und geben sich selbst auf – möglichst mit dem Versuch, dass den Kindern nichts fehlt und sie dennoch eine möglichst schöne Kindheit erhalten können. Ist es nun eine bloße Naivität? Haben sich die Mütter nicht vorher schon ausreichend Gedanken gemacht und sind „selber schuld“? In diesem Erfahrungsbericht beschreibt eine Mutter von zwei Kindern ihre Erfahrungen mit den oben genannten Kritikpunkten. (s. Link 2) Ich zitiere den daraus genannten Satz:

„Wie soll ein Mensch vorher wissen, wie es ihm in einer konkreten Situation geht, die er emotional noch nie durchlebt hat?“

Elternsein ist wohl das Krasseste, was ein Mensch in seinem Leben mitmachen kann. Insbesondere die Zeit mit kleinen Kindern besteht zu großen Teilen aus Selbstaufgabe und Fremdbestimmung. Auch ich als freiheitsliebender Mensch habe mit meinem Erstgeborenen in bestimmten Phasen gehadert, Zweifel an den Tag gelegt und mir ein anderes Leben gewünscht. Glücklicherweise waren das ledigliche Phasen und keine dauerhafte Reue. In verzweifelten Situationen helfen auch Sprüche wie „sie geben ja soviel zurück“ irgendwann nicht mehr aus. Wie muss es also Betroffenen, Vätern als auch Müttern ergehen, in dem „das soviel zurück“ emotional keinen Benefit einbringt? Ich möchte keinen Genderstreit auslösen; mir ist durchaus bewusst, dass auch Väter darunter leiden können. Jedoch scheint es gesellschaftlich eher akzeptiert zu sein, wenn Väter weniger Interesse zeigen – egal ob das durch vermehrten Fokus auf die Karriere begründet ist, physische oder psychische Abwesenheit betrifft oder sogar zu einer Trennung führt. Eine gewisse Distanzierung wird durch die Genetik und Vergleiche zum Tierreich entschuldigt. Doch eine Mutter, die Reue empfindet? Widerspricht das nicht allem, was wir bisher über die Mutter-Kindbindung, dem Hormon Oxytocin, sozialen Strukturen und Erfahrungen bereits wissen?

Gerade zum Shutdown von Corona blieb die meiste Verantwortung im Bezug auf Familie und Haushalt bei den Frauen liegen. (s. Link 3) – auch dies war ein zusätzlicher Stressfaktor, der die Situation für Betroffene verschlimmert haben könnte. Ist es dementsprechend sinnhaft, sich noch über diejenigen zu empören, sie sollen sich mal nicht so anstellen? Müssen Betroffene tatsächlich noch eine gute Mine auflegen, nur um nicht zusätzlich noch verurteilt zu werden, dass sie auf emotionaler Ebene diese Sinnhaftigkeit nicht erleben können? Lasst uns mal über Erwartungshaltungen an die Mutter heutzutage sprechen.

Ja, auch früher haben Mütter alles nebenher heruntergerockt – jedoch gab es drei, vier große Unterschiede. Die Mehrgenerationenfamilie, der Beruf „Hausfrau“, die helfende Nachbarschaft und das Fehlen von Möglichkeiten zum Ausleben, die heutzutage durch die westliche Wohlstandsgesellschaft möglich sind. Kürzen wir es ab unter dem afrikanischen Sprichwort: „Um ein Kind zu erziehen, bedarf es ein ganzes Dorf“ – hören wir auf mit dem Perfektionismus, mit dem sozialen Druck alles richtig machen zu müssen, dem Verurteilen, wenn Selbstpflege betrieben wird, und reden darüber.

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die mit mehr Empathie an die Sache herangeht. Die Verständnis für eine Situation aufzeigen kann, die sie selber nicht versteht. Eine Gesellschaft, die betroffenen Elternteilen nicht ständig suggeriert, dass sie dauerhaft versagen. Die betroffene Kinder auffängt, so dass sie sich nicht schuldig fühlen müssen. Erst das macht eine gesunde soziale Gesellschaft aus.

Link 1: https://youtu.be/uhsSsaRg4hY
Link 2: https://ze.tt/regretting-motherhood-wenn-muetter-das-kinderkriegen-bereuen/
Link 3: https://taz.de/Frauen-in-Corona-Krise/!5681740/

Dies ist ein Gastbeitrag von meiner langjährigen Bekannten „Igi“